Zusammenhängendes Denken, Fühlen, Reden und Tun
Kohärenz - welch komplizierter Begriff! Alles nur akademische Wichtigtuerei? Oder könnte das auch für dich von Bedeutung sein?
Es darf schon jetzt vorweggenommen werden: Ja, es kann für dich entscheidend sein, innere Widersprüchlichkeiten und Konflikte aufzudecken und zu beheben. Denn dort wird wertvolle Energie gebunden, die du gut für die Gestaltung deines Lebens gebrauchen kannst und dir hilft, deine Gesundheit zu erhalten.
Wir sprechen von Kohärenzentwicklung, weil wir es als essentiell und unverzichtbar halten, Kohärenz (= Stimmigkeit, Zusammenhang, Schlüssigkeit) in deinem Leben zu fördern und zu entwickeln.
Bedeutung und Begrifflichkeit
Kohärenz bedeutet Schlüssigkeit, im Einklang sein, zusammenhängend. Der Begriff kommt in verschiedenen Bereichen vor. In der Physik spricht man von kohärenten Wellen (Wasser, Schall, Optik etc.). Wenn diese Wellen bestimmte Ähnlichkeiten und damit einen Zusammenhang aufweisen, spricht man von Kohärenz. Wellen können auch partiell, also zum Teil kohärent sein oder gar keinen Zusammenhang aufweisen. Dies bezeichnet man als Inkohärenz.
Für uns sind andere Erscheinungsformen von Kohärenz interessant. Wir (IFKO) beschäftigen uns beispielsweise mit Herzkohärenz, Atemkohärenz und Hirnkohärenz. Auch hier gibt es Wellen. Darum kümmern wir uns in einem späteren Beitrag bzw. in unseren Projekten ANIMA, MindAll-Training und noch zukünftigen.
Heute geht es um die psychologische Kohärenz.
Kohärenz in der Psychologie
Hier sehen wir Kohärenz als Schlüssigkeit - also Zusammenhang - von dem was wir denken, fühlen und sagen und dem, wass wir tun. Man könnte auch sagen: Stimmigkeit von unseren Werten, Erfahrungen, unseren Glaubenskonzepten und unserem Verhalten. Menschen versuchen prinzipiell nach Möglichkeit so stimmig wie möglich zu sein. So gesehen sind auch Kongruenz und Authentizität ein Ausdruck von Kohärenz. Das Erlebte wird als zusammenhängend und in sich passend empfunden. Wenn dies gelingt, ist eine wichtige Voraussetzung für Gesundheit gegeben.
Es ist evident, dass Kohärenz für psychische und wohl auch körperliche Gesundheit entscheidend ist. Deswegen hat sich der berühmte Gesprächstherapeut Carl Rogers schon 1950 mit dem Thema intensiv beschäftigt. Bereits für ihn war Kohärenz das Kennzeichen einer gesunden Psyche. Dabei konnte er auf jahrzehntelange Erfahrungen der Psychoanalyse zurückgreifen.
Aaron Antonovsky (vgl. Tameling, 2021) war der Begründer der Salutognese. Diese Theorie beschäftigt sich mit den Faktoren, die der Gesunderhaltung des Menschen dienen. Das ist der Gegenentwurf zur Pathogenese, die sich ja mit dem beschäftigt, was die Menschen krank macht (also der institutionelle medizinische Zugang). Er stellte fest, dass ehemalige KZ-Opfer an den Folgen des Grauens verstarben, während andere wiederum gesund blieben. Er erkannte drei wesentliche psychologische Elemente, die für die Überlebenden typisch waren. Alle Gesundgebliebenen hatten ein Grundgefühl, das er Kohärenzgefühl (Sense of Coherence) nannte. Das Leben wurde von ihnen unabhängig von der Schwere des Schicksals dennoch insgesamt als stimmig empfunden. Voraussetzungen dafür waren Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit des Erlebten. Dazu mehr in einem späteren Artikel.
Klaus Grawe (2004) beschäftigt sich in seiner Konsistenztheorie zwar aus einer etwas anderen Sicht mit dem Thema, kommt aber auf das gleiche Ergebnis, was die gesundheitlichen Wirkungen betrifft. Bei ihm steht im Vordergrund die Befriedigung von Grundbedürfnissen. Werden diese ausreichend erfüllt und es kommt dabei zu keinen unbewältigbaren Konflikten, entsteht das Gefühl von Konsistenz. Auch dies bedeutet für die Psyche eine Form von Stimmigkeit. Diesem Ansatz wird ebenfalls ein späterer Blogbeitrag gewidmet werden.
In verschiedenen modernerenTraumatheorien wird Fragmentierung (Abspaltung, Zerteilung) der Psyche beschrieben. Diese Abspaltungen und Teilpersönlichkeiten werden beispielsweise als Traumatisierte Anteile (Ruppert, 2005), Emotionale Persönlichkeitsanteile (Kahn, 2010), Ego-States (Peichl, 2007, Fritsche, 2018) etc. bezeichnet. Man kann hier von psychischer Inkohärenz sprechen, weil der betroffene Mensch sich nicht mehr als Einheit erlebt.
Inkohärenz muss aber nicht unbedingt krankhaft sein. Wir erleben sie durchaus auch als Phänomene des Alltags.
Ein paar Beispiele für alltägliche Inkohärenz:
- Wir haben würden gerne einen handwerklichen Beruf erlernen, tun das aber dann nicht, weil es gegen den Willen eines Elternteils ist und machen stattdessen ein ungeliebtes Studium
- Ein radikaler Vegetarier wird beim Bratwurstessen ertappt
- Jemand liebt Kinder, möchte aber auf gar keinen Fall selbst welche haben
- Ein Freund ist militanter Tierschützer und füttert seine Hunde und Katzen mit Schnitzelfleisch aus der Massentierhaltung
- Der Politiker redet von Solidarität und Sparsamkeit und bereichert sich gleichzeitig auf Kosten der Allgemeinheit
- Der Moralapostel betrügt seine Frau
- Der seriöse Unternehmer unterläuft seinen Geschäftspartner mit einem "Kavaliersdelikt"
- Der Öko-Papst raucht im VW-Käfer Baujahr 1968 neben seinen kleinen Kindern
- Die engagierte Links-Politikerin ist in einen Rechts-Wähler verliebt
Sprichwörtlich in diesem Zusammenhang ist auch das geflügelte Wort "Wasser predigen, aber Wein trinken". Beinahe jeder weiß, was mit dieser Metapher gemeint ist. Beispiele gäbe es da noch unendlich viele. Jeder hat schon mal mit jemanden gesprochen, der sich am Ende seines Satzes nicht mehr an dessen Anfang erinnert und widersprüchliche Dinge sagt oder gar völlig zusammenhanglos redet. Doch die meisten Inkohärenzen in einem menschlichen Leben sind weitaus weniger spektakulär und daher auch kaum offensichtlich und spürbar.
Wirkungen von Inkohärenz
Wenn wir uns nicht kohärent verhalten (können), verursacht das Unbehagen und Leiden. Das äußert sich in Spannungen, Konflikten und Problemen aller Art. Jeder weiß, dass wir dafür viel Energie benötigen und binden. So entsteht chronischer Stress, woraus sich unangenehme Folgen ergeben können: Krankheit, Sucht, geringer Selbstwert, eingeschränkte Lebensfreude und Konflikte mit der Außenwelt sind nur einige wenige Schlagworte dafür, wie innere und äußere Unstimmigkeiten wirken können.
Leider ist es in einem menschlichen Leben kaum vermeidbar, dass innere Realität und äußeres Verhalten manchmal nicht übereinstimmen. Maaz (2020) spricht sogar von der normopathischen Gesellschaft, in der es normal ist, "krank" zu sein. Je größer die Abweichung zwischen dem idealen und dem gelebten Selbst, desto größer die Spannung. Dies führt dazu, dass die Psyche Strategien anwendet, um wieder in ein Gleichgewicht zu kommen. Ausgehend von der Theorie der Kognitiven Dissonanz (vgl. Festinger, 2012) hat sich eine umfangreiche psychologische Forschung ergeben, die allesamt von gleichen Grundlagen ausgeht. Sie stellt fest, dass die Versuche der Psyche die Harmonie wieder herzustellen, meist misslingt. Man kann die Wahrheit nicht so einfach durch rationale Argumente umdeuten, verschleiern, verleugnen etc., denn es gibt immer ein inneres Wissen, dass man sich damit gerade selbst betrügt - und auch die Umwelt merkt es und reagiert entsprechend. Wenn wir die Wahrheit durch Abwehrmechanismen vermeiden, werden wir im höchsten Ausmaß unauthentisch und schädigen uns selbst auf vielfältige Weise.
Ein reife Persönlichkeit kann mit inneren Widersprüchen umgehen und diese aushalten und integrieren, ohne die Realtität zu verleugnen. Somit bleibt sie wahrhaftig und echt, erzeugt keinen überbordenden inneren Stress und wirkt gegenüber der Umwelt glaubhaft. Dies verlangt allerdings eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Konfliktmaterial und persönliche Weiterentwicklung. Es erfordert aber auch, sich mutig etwaigem sozialen Druck zu stellen und auf Harmoniestreben zu verzichten.
Destruktive Kohärenz
Nicht immer ist Kohärenz als positiv zu bewerten. Manchmal kann nämlich auch negatives als richtig empfunden werden. Wenn wir beispielsweise in uns die tiefe Überzeugung tragen, dass wir es nicht verdient haben, gut behandelt zu werden, sind wir misstrauisch, wenn uns Wohlwollen entgegenkommt. Beispielsweise stellen wir oft fest, dass frühere Gewaltopfer fürsorgliche und liebevolle Partner verlassen und sich stattdessen in dysfunktionalen Beziehungen wiederfinden. Negative Grundmuster führen zu weiteren negativen Erfahrungen. Kohärenz bedeutet hier die Aufrechterhaltung des destruktiven Grundmusters. Auf diese Weise wirken negative Prägungen in unserem Lebensskript fort. Es ist stimmig, ein unglückliches Leben zu führen, weil wir es so erwarten und wir werden unbewusst vermeiden, ein gutes Leben zu führen. Denn dies würde als inkohärent, als Widerspruch erlebt werden. Geht es uns gut, rufen wir unseren "inneren Saboteur" auf und machen unbewusst unsinnige und irrationale Dinge. So kann unsere gewohnte Ordnung (Kohärenz) wieder hergestellt werden. Wir sind zwar unglücklich, erleben dies jedoch als richtig, als stimmig, als kohärent, vgl. dazu König (2021).
Es ist offensichtlich, dass hier vorerst die sabotierenden Programme erkannt und verändert werden müssen. Mit Affirmationen und positivem Denken kann man in diesen Fällen nur scheitern.
Kohärenzentwicklung
Das bedeutet, dass wir unsere inneren Widersprüche erst erkennen müssen, um dann damit zu arbeiten. Wir nennen diese Arbeit "Processing". Nach einem gelungenen Prozess ist der Konflikt so integriert worden, dass er keine weiteren Störungen mehr erzeugt und erträglich geworden ist. Die Situation ist "entstresst".
Idealerweise verbiegt man sich nicht sondern steht zu sich selbst. Damit wird der Alltag zwar nicht komfortabel und harmoniegesteuert. Doch Selbstwert und Selbstrespekt profitieren in einem ungeahnten Ausmaß. Authentizität kann buchstäblich das Leben retten (Maté, 2021).
Wir haben eine Vielzahl von Methoden und Techniken, die wir bei IFKO permanent weiterentwickeln. Die Aufdeckung von inneren Widersprüchlichkeiten und folgende Entwicklung von Kohärenz und Konsistenz stehen ganz vorne in unserer Wertehierarachie.
Literatur:
Festinger, L. (2012): Theorie der Kognitiven Dissonanz
Fritzsche, K. (2018): Praxis der Ego-State-Therapie
Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie
Kahn, G. (2010): Das innere Kind retten. Sanfte Traumaverarbeitung bei Komplextraumatisierung
König, V. (2021): Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen
Maté, G. (2021): Wenn der Körper nein sagt. Wie verborgener Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können
Maaz, H. J. (2020): Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft
Peichl, H. (2007): Innere Kinder, Täter, Helfer & Co.
Ruppert, F. (2005): Trauma, Bindung und Familienstellen. Seelische Verletzungen verstehen und heilen
Tameling, R., (2019): Die kognitiven Stresstheorien der Pathogenese und Salutogenese von Richard S. Lazarus und Aaron Antonovsky