Spirituelle Umleitungen zur Vermeidung von Realität
Spiritualität kann eine unglaubliche Bereicherung auf unserem Lebensweg sein. Sie hilft uns, schlimme Situationen zu bewältigen, weil sie uns enorm viel Kraft geben kann. Sie fördert das Gute in uns und führt in unsere authentische, unverletzte innere Mitte, die wir auch als wahres Selbst oder unser wahres Wesen bezeichnen können.
Eine gesunde, geerdete Spiritualität öffnet den Weg zu uns selbst, verbindet uns mit unserem Wesenskern. Auf diesem Weg entsteht Wahrheit und vor allem Wahrhaftigkeit in unserem Leben. Echte Spiritualität gibt uns die Möglichkeit, auch in unseren dunkelsten Erfahrungen Sinn zu erkennen. Damit hilft sie uns, gesund zu werden und zu bleiben. Sinn zu erkennen, ist eine der Grundlagen für ein gesundes Leben laut Salutogenese und führt zum Gefühl von Kohärenz. Das bedeutet, dass es für uns auch stimmig sein kann, negative Erfahrungen gemacht zu haben. In diesem Punkt erkennen wir schon den Unterschied zu einer Form von Spiritualität, die der Psychologe John Welwood bereits 1984 als Spiritual Bypassing bezeichnet hat.
Denn auch die Spiritualität hat ihren Schatten. Sie kann bewirken, nicht in Berührung mit unseren Verletzungen und inneren Konflikten zu kommen. Wir nutzen sie, um Schmerz zu vermeiden und zu umgehen – eben als Bypass. Um emotionale Heilung zu erfahren dürfen wir jedoch den Schmerz nicht vermeiden, verdrängen, abspalten. Wir müssen ihn integrieren, damit er seine destruktive Macht über uns verliert und zur Entwicklung der Persönlichkeit führt. Vermeidung ist so gesehen das genaue Gegenteil von Heilung. So entsteht eben keine Nähe, sondern eine ungesunde Distanz zu unserem Leben. Es entspricht einer Flucht vor der Realität und der Gegenwart. Manche traumatisierte Menschen erkennen im Laufe der Zeit, dass ihre oft stundenlangen Meditationen dazu dienen, sich von der Gegenwart und der Realität wegzubeamen, anstatt sie sich dabei selbst näherzukommen. Spiritualität führt dabei zu Dissoziation, zur Trennung von sich selbst.
Es gibt so viele Formen der Vermeidung, wie es Menschen gibt. Hier findest du einige Beispiele, die wir sehr oft in Verbindung mit Spiritualität antreffen:
Spiritueller/religiöser Fanatismus
Äußere, starre Regeln übernehmen Entscheidungen statt in sich hineinzufühlen, was für sich selbst passend wäre.
Man überlässt einem Guru oder Heilsbringer, was man darf und was verboten ist. Das betrifft nicht nur Religionen, sondern auch bestimmte Formen von Ernährung, Alkohol/Rauchen, der Sexualität etc. Immer dann, wenn wir andere feststellen lassen, was für uns gut oder schlecht ist, was heilig oder nicht spirituell ist, halten wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit darauf und lenken uns ab. Wir erkennen den Bypasss oftmals daran, dass es uns furchtbar stört, wenn andere Menschen nach eigenen Kriterien leben und sich ganz und gar nicht nach unserer heiligen, absoluten Wahrheit leben. Wenn wir jedoch aus einem authentischen Bedürfnis beispielsweise vegetarisch leben und keinen Alkohol trinken, ist es stimmig und richtig für uns. Dann wird es uns aber auch nicht kümmern, wenn andere Menschen dies für sich anderes entschieden haben.
Die Denk-Umleitung
Hier handelt es sich um die Tendenz, sich ins Denken zu flüchten, alle Bereich seines Lebens zu intellektualisieren. Man weiß bereits theoretisch alles über sich und seine Probleme, distanziert sich dabei aber vom Fühlen und damit vom eigentlichen Er-Leben. Der Verstand ist jedoch nicht in der Lage, Lebendigkeit zu spüren. Er kann nur eine Simulation, ein Ersatzerleben vorgaukeln. Emotionale Probleme kann der Geist eben nicht lösen. So verfängt er sich in Endlosschleifen des Denkens, in ewigem Gedankenkreisen. Es kommt kein Selbstkontakt zustande und damit auch keine Heilung.
Pragmatischer Materialismus
Strenggenommen handelt es sich dabei um den Misssbrauch von Spiritualität, indem man sie vollständig verdrängt und ausblendet. Pragmatische, praktische Lebensführung ist das Dogma. Nur was in der materiellen Welt erfahrbar ist, wird anerkannt. So kann kein integriertes Gesamtbild entstehen, die Erfahrung von Sinn und Einheit fehlt. Oftmals haben diese Menschen sehr großen Erfolg im materiellen, äußerlichem Leben, sind aber spirituell vollkommen unterentwickelt.
Zeugen-Bypass (Innerer Beobachter)
Die durchaus sinnvolle spirituelle Praxis, eine Beobachterposition einzunehmen wird hier zum Bumerang. Es entsteht die Tendenz, sein Leben nur mehr von außen zu beobachten, aus der Ferne auf seine Verletzungen und emotionalen Erfahrungen zu blicken. Dabei entsteht Schaden durch den unerlösten Schmerz, der sich gegen einen selbst richtet. Es handelt sich nicht um einen spirituellen Fortschritt, sondern um eine Vermeidungstaktik. Die Fähigkeit zu Fühlen ist damit insgesamt sehr reduziert.
Alles ist Eins – Der Non-duale Bypass
Man lebt im großen Mysterium der Einheit. Herausforderungen und subjektive Bedürfnisse werden nicht wahrgenommen. So kann keine Entwicklung stattfinden, da kein Kontakt zu den gestellten Aufgaben besteht, es werden keine fälligen Entscheidungen getroffen, da sowieso alles eins ist und es schließlich egal wäre, ob und wie man sich entscheidet. Typische Aussagen sind: „Du sollst nicht werten“ oder „Alles ist gut so, wie es ist“. So bleibt man in toxischen Beziehungen und Situationen anstatt sich zu befreien. Es handelt sich dabei also nicht um die Aktzepanz einer reifen Persönlichkeit, sondern wiederum um die Vermeidung von Schmerz.
Der Verantwortungs-Bypass / Du bist Schöpfer-Bypass
Hier bedient man sich dem Konzept, die Welt als Spiegel oder Resultat von karmischen Absprachen zu sehen. So wird jedes Ereignis, jede Krankheit als Anlass genommen, selbst dafür verantwortlich zu sein. Diese im Grunde richtige Annahme wird so verdreht, dass die anderen für ihr falsches Verhalten gar nichts können, sondern man wäre an allem selbst schuld. Täter werden somit entlastet, anstatt sie zur Verantwortung zu ziehen, was für den Heilungsprozess entscheidend sein könnte. Typische Aussagen: „Das habt ihr euch auf Seelenebene so ausgemacht“, „Das hast du dir selbst so kreiert“, „Das kommt, weil deine Schwingung es anzieht“ etc. machen selbst Opfer von Gewalt noch dafür verantwortlich, dass ihnen Schlimmes zugefügt worden ist. Doch kein Kind sucht sich aus, dass es missbraucht wird. In der dreidimensionalen Welt entstehen Traumata, die geheilt werden sollten. Die prinzipielle Zuweisung von Schuld für schlimme Erlebnisse bewirken jedoch genau das Gegenteil von Heilung. Opfer erfahren Scham und Schuld für ihr Schicksal.
Du musst vergeben-Bypass
Diese aus unserer Sicht absurde Gesinnung ist gerade auch in der Aufstellungsszene eine sehr gängige Praxis, Opfer zu re-traumatisieren. Man muss Menschen vergeben und sich vor ihnen sogar verbeugen, obwohl sie einem Schlimmes zugefügt haben. In unzähligen Fällen haben wir gesehen, was solche verkehrten Ansätze bei Menschen bewirken können. Sie führen zur Verdrängung von gerechter Wut, die heilend sein könnte und ausgedrückt werden müsste. Diese wird wieder unterdrückt und wirkt fatal auf die Gesundheit der Menschen. Opfer bleiben hilflos, anstatt ermächtigt zu werden, sich auszudrücken. Echte Vergebung kann nur als Prozess mit der Auseinandersetzung des Geschehenen passieren, nicht jedoch aus der Ohnmacht heraus. Unechte Vergebung ist Verrat an unseren inneren Kindern, an uns selbst.
Positivismus
Im Windschatten dieser Art von Spiritualität finden wir oft einen unauthentischen, toxischen Positivismus, der mehr schadet als er nutzt. Auch damit flüchten wir vor unserer inneren Welt und vergrößern die Trennung zum eigenen Wesenskern.
Positiv und aufbauend zu denken, kann in bestimmten Situation sehr hilfreich sein und unsere Resilienz erhöhen. Wenn es jedoch willkürlich wird und der Situation nicht entspricht, entsteht Druck und das Gefühl von Ohnmacht und Inkompetenz wird verstärkt. „Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst“, „den hungrigen Kindern in Afrika geht es viel schlechter als dir“, „Nimm’s leicht und nicht persönlich“ sind typische Ausdrücke, die auf mangelnde Empathie zu uns selbst hinweisen. Was wir jedoch brauchen ist eben Mitgefühl und Verständnis von anderen und zu unseren verletzten Anteilen.
Literatur:
König, V. (2021): Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen
Maas, A. (2021): Die Happiness-Lüge: Wenn positives Denken toxisch wird
Masters, R. A. (2010): Spiritual Bypassing. When Spirituality Disconnects Us from What Really Matters
Ruppert, F., Banzhaf, H. (2017) (Hg.): Mein Körper – mein Trauma – mein Ich. Anliegen aufstellen – aus der Traumabiografie aussteigen
Schubert, C. (2011) (Hg.): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie
Winnicott, D., W. (2020): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt