Leben, einzeln und frei wie ein Baum,
und brüderlich wie ein Wald,
das ist unsere Sehnsucht.
Nazim Hikmet, der berühmte türkische Dichter und Freiheitskämpfer, bringt es in wenigen, poetischen Worten auf den Punkt.
Im Spannungsfeld von Bindung, Abhängigkeit und Symbiose und ihrem scheinbaren Gegenteil von Freiheit, Unabhängigkeit, Individuation, Selbstwerdung und Autonomie liegen die unausweichlichen Urkonflikte des Menschen. Die gelungene Gestaltung eines Lebens setzt die geglückte Bewältigung dieser Aufgabenstellungen voraus.
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Ab dem Punkt der Zeugung ist das heranwachsende Wesen abhängig und in einer Symbiose mit seiner Mutter. Es entsteht eine Bindung, die ein Leben lange seine Wirkung entfaltet. Wie sich diese Zeit gestaltet, ob und wann eine Ablösung in Richtung Autonomie und Selbstwerdung gelingt, formt den Verlauf des weiteren Lebensweges eines jeden Menschen.
Eine gesunde Individuation (Selbst-Entwicklung) zu unterstützen, gehört zu den wichtigsten Aufaben unseres Projektes Seelensysteme.
Was ist eine Symbiose?
Die Bezeichnung Symbiose (aus dem Altgriechischen syn = zusammen und bios = Leben) stammt ursprünglich aus der Biologie und beschreibt jegliches Zusammenleben von artverschiedenen Organismen mit beidseitigem Vorteil.
Die Partner von solchen Gemeinschaften werden Symbionten genannt.
Manche Symbionten können nicht alleine, also unabhängig voneinander überleben. Andere wiederum profitieren zwar gegenseitig, können aber durchaus auch autonom existieren. Dieser Unterschied ist entscheidend, wenn wir menschliche Symbiosen betrachten, denn für uns trifft beides zu.
Menschliche Symbiosen
Im sozialen und psychologischen Gebrauch werden Symbiosen durchwegs als negativ bewertet, da sie Abhängigkeiten beschreiben. Immerhin wird – jedenfalls in individualistischen Gesellschaften – Selbständigkeit und persönliche Autonomie hoch bewertet. Symbiotische Beziehungen gelten aus diesem Standpunkt als minderwertig, entwicklungshemmend oder sogar schädigend. Erwachsene Unabhängigkeit und Reife werden zugunsten der Befriedigung kindlicher, symbiotischer Bedürfnisse zurückgestellt.
Andererseits gilt die Erfüllung symbiotischer Bedürfnisse von Säuglingen als unverzichtbare Basis für die gelungene Entwicklung des Kindes, wie bereits John Bowlby und Mary Ainsworth in ihrer Bindungstheorie festgestellt haben. Auch Ruppert (2017) betont die Wichtigkeit für die Entwicklung eines gesunden Ich’s und beschreibt die destruktiven Folgen frühkindlicher und sogar vorgeburtlicher Traumatisierungen für eine spätere, starke Ich-Identität.
Vorgeburtliche und frühkindliche Symbiosen
Während manche Forscher die vorgeburtliche und frühkindliche Symbiose von Mutter und Kind als Phase ohne eigenes Bewusstsein beschreiben, gehen andere durchaus von einem rudimentären, individuellen Bewusstsein aus. Von der Zeugung an ist das neue Leben bedingungslos von der Mutter abhängig, weil es organisch mit ihr verbunden ist und nicht für das eigene Überleben sorgen kann.
Ist in dieser Phase auch die Mutter von der Frucht abhängig? Durch die biologische Verbindung über die Nabelschnur und die Einbettung im eigenen Körper liegt das auf der Hand. Jedenfalls kann sie sich nicht ohne weiteres vom entstehenden Leben entfernen. Eine Trennung wäre zumindest körperlich traumatisierend (Trauma = Verletzung), weil die Verbindung zwischen Mutter und Kind durch Zerstörung von Zellgewebe erfolgen müsste. So ist es zu erklären, dass es in solchen Fällen auch zu seelischen Traumata der Mutter kommen kann. Die leibliche Trennung wäre für das neue Leben ohnehin in den meisten Fällen tödlich. Eine biologische Autonomie des Embryos/Fötus ist in dieser Phase definitiv nicht möglich.
Einige Forscher gehen davon aus, dass bei frühesten Gefährdungen der Schwangerschaft traumatische Impacts beim reifenden Wesen passieren, die zellulär abgespeichert werden (vgl. Alberti 1993, Ruppert 2015, 2017, 2021). Es handelt sich dabei um das sogenannte implizite Gedächtnis, also Prägungen, die noch vor der Ausreifung des Neocortex (Großhirnes) und somit vor der Existenz des expliziten, biographischen und verbalen Gedächtnisses liegen. Damit entziehen sich derartige Imprints der bewussten Erinnerung. Das ist besonders fatal, denn einerseits wird die permanente Gefährdung des Lebens ständig „irgendwie“ gespürt und hat konkrete, körperliche Auswirkungen, kann aber mit dem Verstand nicht reguliert („beruhigt“) werden, s. auch Bourquin & Cortés (2016). Für das implizite Gedächtnis ist immer „jetzt“, es kann nicht erkennen, dass die lebensbedrohliche Gefahr bereits vorbei ist. Ständige Unruhe im System, die mit dem Verstand nicht erklärbar ist und direkt auf die Stressachse wirkt, kann die lebenslange Folge sein (vgl. Maté 2022, besonders auch Schubert 2011).
Mit der Geburt erfolgt die Ent-Bindung auf körperlicher Ebene. Das ist der erste, körperliche Schritt Richtung Autonomie. Der Säugling bleibt natürlich nach wie vor abhängig, da er nicht selbst für sich sorgen kann. Die Mutter ist im Regelfall sozial und auch hormonell (Oxytocin) gebunden. Damit sorgt die Natur dafür, dass sie sich um das Kind kümmert und es nicht einfach weglegt. Durch ständigen Haut- und Blickkontakt wird diese Bindung aufrechterhalten und sorgt für die Geborgenheit des Kindes. Leider funktioniert das nicht allen Fällen. Wenn die Mutter selbst traumatisiert ist oder die Umweltbedingungen unsicher sind, fehlt eventuell die Einstimmung auf den Säugling und es entsteht lebensbedrohliche Bindungs- und Verlustangst. Auch dieser Umstand sorgt u. U. für Traumatisierungen im impliziten, zellulären Gedächtnis, s. Blackstone (2019).
Zwar reden wir auch in dieser Lebensphase noch von einer Symbiose. Dies beschreibt aber nicht, wie diese Beziehungsqualität gestaltet ist. Jedenfalls sehen wir hier schon, dass wir von einer biologischen und einer psychologischen Symbiose sprechen können. Beide Aspekte wirken wechselseitig aufeinander ein und sind entscheidend, wie sich die Qualität der Bindung zwischen Mutter (bzw. primärer Kontaktperson) und Kind entwickelt, wie sich die Identität und daraus folgend die Unabhängigkeit (Autonomie) ausbilden können. Dort wo sich nach und nach klare psychische und körperliche Grenzen zwischen Mutter und Kind zeigen, wird sich die symbiotische Verschmelzung verringern. Identität kann entstehen. Ich-Grenzen unterscheiden das ICH vom DU, Abgrenzung kann erfolgen und Autonomie immer mehr entstehen.
In der Wissenschaft wurde und wird viel darüber diskutiert, ab wann sich das Kleinkind als eigene Person erkennt und die Verschmelzung mit der Mutter auflösen und eine eigene, psychische Ich-Grenze ausbilden kann. Dabei gibt es widersprüchliche Ansichten und Konzepte. Interessierte mögen sich in der Literatur bewegen: U. a. Fromm (2019), Mahler et al. (2008) u. Dornes (1993) beziehen sich hauptsächlich auf klinische psychoanalytische Befunde.
Für die Praxis ist diese Diskussion aber nur sehr begrenzt nützlich. Denn es gilt als erwiesen, dass dysfunktionale Früherfahrungen zu hinderlichen Bindungsmustern und späteren Selbstwertmängeln führen können, die eine natürliche Auflösung der symbiotischen Bindung behindern können. Dies gilt unabhängig davon, ob in den frühen Lebensphasen Bewusstheit über die eigene Individualität besteht oder nicht.
Leider müssen wir häufig beobachten, dass die psychologische Autonomie trotz eines entsprechenden Lebensalters nicht zustande kommt, obwohl körperliche und intellektuelle Reife und Gesundheit des Menschen gegeben sind. Dafür gibt es verschiedene Ursachen.
Meist liegt es im Persönlichkeitssystem der Eltern selbst, dass dies nicht gelingt. Bowlby spricht dabei von unsicheren bzw. ambivalenten Bindungsformen, die demnach Sicherheit im Bindungssystem vermissen lassen und nicht durch Autonomie abgelöst werden können.
Diese Formen entstehen u. a. dadurch, dass die Eltern selbst unterschiedliche traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, unerfüllte kindliche Bedürfnisse aufweisen und nicht in der Lage sind, sich adäquat auf das Kind einzustimmen. In vielen Fällen gibt es Stress im Umfeld der Mutter, der sich direkt auf das Ungeborene oder Kleinkind auswirkt (s. dazu auch Alberti, 2005). Gedanken an Abtreibung oder Ablehnung des Neugeborenen, Missbrauch von Substanzen etc. sind ggf. ebenfalls dafür verantwortlich, dass Geborgenheit und Schutz nicht vermittelt wird. Gefühlte oder tatsächliche Gefährdung des Lebens steht auf der Tagesordnung.
Kinder werden oft auf verschiedene Arten missbraucht und nachhaltig geschädigt. Ruppert (2017) spricht hier von den Traumata des „Nicht gewollt - nicht geliebt – nicht geschützt-Werdens“ und weist auf den enormen Stress hin, dem diese bedauernswerten Kinder ausgeliefert sind. Maté sieht in diesen Erfahrungen eine Disposition für Suchterkrankungen (2021).
Aufrechterhaltung der Bindung um jeden Preis wird durch das Kind krampfhaft angestrebt, um das eigene Überleben nicht zu gefährden. Es übernimmt bestimmte Aufgaben im psychischen System der Mutter, um gebraucht zu werden. Dabei entwickelt es die eigenen Persönlichkeitsanteile nicht. Statt eigener Identität erfolgt Identifikation mit bestimmten Aufgaben, Rollen und Zuschreibungen von anderen Personen. Die inneren Antreiber, wie beispielsweise Perfektionismus und zu frühe Selbständigkeit, entstehen (Kahler, 2008). Man muss sich an das Gewünschte anpassen, um die Bindung nicht zu gefährden. Das sind die ersten Schritte der Selbst-Entfremdung, der Trennung von sich selbst, der Erosion des Selbstwerts.
Eine spezielle symbiotische Erscheinungsform ist als Parentifizierung („Ver-Elterlichung“) bekannt. Dabei werden Kinder als Erwachsene behandelt und sind damit hoffnungslos überfordert. Die Eltern-Kind-Beziehung wird pervertiert. Kinder werden zum Ersatz von Ehepartnern oder gar eigenen Eltern, vielleicht auch zum Erfüller eines eigenen, nicht gelebten Lebens. Notwendige Entwicklungsprozesse können dabei gravierend gestört werden. Langlotz (2015) hat sich diesem Thema explizit gestellt und ein eigenes Aufstellungsformat (Selbst-Integration) entwickelt.
Es liegt also nicht daran, dass eine Bindung nicht aufgelöst werden kann, sondern dass die Bindung keine „richtige“ Bindung war. Eine geglückte, sichere Frühbeziehung ist nicht der Gegensatz, sondern die notwendige Grundlage für eine später gelingende Loslösung und Autonomie. Nur mit dem Gefühl der Sicherheit können sich Kleinkinder auf Entdeckungsreisen begeben und Selbstvertrauen und Selbstsicherheit entwickeln. Gibt es keinen sicheren Hafen, bleiben Angst und Unsicherheit vorherrschend, exploratives Erobern der kindlichen Umwelt ist dann gefährlich und kann nicht als lustvoll erlebt werden. Die Grundängste und die damit verbundenen Stressmuster bleiben u. U. ein ganzes Leben bestimmend und blockieren Individuation und Autonomie, somit persönliche Reife insgesamt (s. dazu Porges, 2021).
Wir sehen sofort: Statt bei sich selbst zu sein und den lebenslangen Individuationsprozess zu gehen, bleibt man in einem fremden Leben gebunden und merkt das meist nicht einmal mehr. Im Idealfall werden die psychologische Trennung und Abhängigkeit mit der Pubertät eingeleitet und nach einigen Jahren mit dem Start in ein eigenes Leben weitgehend abgeschlossen.
Symbiose von Erwachsenen
Gelingt die Ablösung, der Autonomieprozesse nicht im natürlichen Umfang, bleibt die Bindung an frühe Bezugspersonen auf einer unreifen Stufe stehen und entwickelt sich nicht mehr weiter. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich erwachsene Personen in Gegenwart ihrer Eltern wie kleine Kinder fühlen und auch so verhalten. Diese Bindungsmuster können auch auf partnerschaftliche Beziehungen übertragen werden. So sucht man beim Partner, was man bei den Eltern nicht gefunden hat. Oder man bekämpft dasjenige beim Partner, was man bei den Eltern als einschränkend empfunden hat, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Liste der unbewussten Motive ließe sich noch beliebig erweitern. Mit hellseherischer Sicherheit findet man immer den dafür passenden, aber subjektiv als falsch empfundenen Partner. Auch dies sind mögliche Auswirkungen dysfunktionaler, nicht bewältigter Symbiose- und Beziehungsmuster.
Fromm (1956, Die Kunst des Liebens) spricht bei der Symbiose von Erwachsenen von schädigenden Beziehungsmustern, in denen ein Selbst mit einem anderen Selbst auf derartige Weise verbindet, dass jeder dabei seine Integrität verliert. Menschliche Entwicklung ist auf diese Weise nicht mehr möglich. Hellinger (2002) spricht in diesen Fällen von Verstrickungen, Ruppert (2017) von Identifikation, Maaz (2017) greift auf „das falsche und das wahre Selbst“ von Winnicot & Kahn (2020) zurück und spricht von der Entwicklung des falschen Lebens.
Allen gemeinsam ist: Es gibt keine gesunde Grenze zwischen dem ICH und dem DU. Keiner weiß, wo er selbst aufhört und der andere beginnt, wer man eigentlich im Innersten ist. Das ist für alle Beteiligten leidvoll und einschränkend. Beide Leben überschneiden sich. Der typische Effekt: Man kann nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander. Trennungen, selbst aus leidvollen, toxischen Beziehungen sind nur sehr schwer möglich und enden oftmals in Rosenkriegen. Abhängige Bindungsmuster verursachen unendliches Leid, das setzt sich über ihre Kinder transgenerational weiter fort.
Doch es gibt einen positiven Ausblick: Selbstentwicklung kann unbewusste Muster aufzeigen und bietet Lösungen an, diese zu unterbrechen. Als eine der hilfreichsten Methoden sehen wir diverse Formen der (systemischen) Aufstellungsarbeit an.
Literatur:
Alberti, B. (1993). Die Seele fühlt von Anfang an: Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. Kösel.
Blackstone, J. (2019). Trauma und der befreite Körper: Die heilende Kraft des fundamentalen Bewusstseins. VAK Verlags GmbH.
Bourquin, P., & Cortés, C. (2016). Der allein gebliebene Zwilling (1. Auflage). Innenwelt Verlag.
Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling: Die präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer.
Fromm, E. (2019). Die Kunst des Liebens (L. Mickel & E. Mickel, Übers.; 16. Auflage). Ullstein.
Hellinger, B. (Hrsg.). (2002). Ordnungen der Liebe: Ein Kursbuch (Vollst. Taschenbuchausg). Knaur.
Kahler, T. (2008). Process therapy model: Die sechs Persönlichkeitstypen und ihre Anpassungsformen. Kahler Communication -KCG.
Langlotz, E. R. (2015). Symbiose in Systemaufstellungen: Mehr Autonomie durch Selbst-Integration. Springer.
Maaz, H.-J. (2017). Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft (2. Auflage). C. H. Beck.
Mahler, M. S., Pine, F., Bergman, A., & Mahler, M. S. (2008). Die psychische Geburt des Menschen: Symbiose und Individuation (19. Aufl). Fischer-Taschenbuch-Verl.
Maté, G. (2021). Im Reich der hungrigen Geister: Auf Tuchfühlung mit der Sucht - Stimmen aus Forschung, Praxis und Gesellschaft (1. deutsche Auflage). Unimedica.
Maté, G. (2022). Wenn der Körper nein sagt: Wie verborgener Stress krank macht - und was Sie dagegen tun können (A. Hunke-Wormser, Übers.; 7. deutsche Auflage). Unimedica.
Porges, S. W. (2021). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Gespräche und Reflexionen: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung (T. Kierdorf & H. Höhr, Übers.; 4. Auflage). G. P. Probst Verlag.
Ruppert, F. (2015). Trauma, Bindung und Familienstellen: Seelische Verletzungen verstehen und heilen (Sechste Auflage). Klett-Cotta.
Ruppert, F. (Hrsg.). (2017). Mein Körper, mein Trauma, mein Ich: Anliegen aufstellen - aus der Traumabiografie aussteigen (3. Auflage). Kösel.
Ruppert, F. (2021). Frühes Trauma: Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensjahre (Vierte Auflage). Klett-Cotta.
Schubert, C. (2011). Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Schattauer.
Winnicott, D. W., & Khan, M. M. R. (2020). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt (G. Theusner-Stampa, Übers.; 3. Auflage). Psychosozial-Verlag.