Oder: Warum dein Therapeut nicht wirklich dein Vater ist
Hast du dich jemals gefragt, warum du deinen Chef so einschüchternd findest, obwohl er eigentlich ein ganz netter Typ ist? Oder weshalb deine Therapeutin sich plötzlich wie deine Mutter anfühlt, nur ohne die kritischen Kommentare zu deinem Outfit? Willkommen in der wundervollen Welt der „Übertragungen“ – einem psychologischen Phänomen, das unseren Alltag spannender und dramatischer macht als jede Netflix-Serie!
Übertragung – Was ist das überhaupt?
Die Übertragung stammt aus der Tiefenpsychologie und wurde vor allem durch unseren alten Freund Sigmund Freud bekannt. Vereinfacht gesagt passiert dabei Folgendes: Du begegnest einer neuen Person, und plötzlich überträgst du auf sie Gefühle, Erwartungen oder Beziehungsmuster aus deiner Vergangenheit. Deine Gehirnzellen flüstern dir dann leise ins Ohr: „Hey, diese Situation kenne ich doch!“ – auch wenn es völlig unpassend ist.
Ein klassisches Beispiel gefällig? Du sitzt im Büro, dein Chef betritt den Raum, und plötzlich fühlst du dich wieder wie ein nervöser Teenager, der eine Mathearbeit zurückbekommt. Und warum? Weil dich dein Chef unbewusst an die strenge Art deiner Mutter erinnert. Herzlichen Glückwunsch, du hast eine Übertragung!
Warum wir Übertragungen nicht einfach abschalten können
Unser Gehirn liebt Muster. Es erkennt vertraute Situationen und reagiert automatisch. Das ist praktisch beim Autofahren, aber weniger hilfreich, wenn dein Partner plötzlich die Rolle deines Vaters übernimmt, inklusive der Socken, die überall herumliegen. Diese Muster helfen uns zwar, Situationen schnell einzuschätzen, doch manchmal schießen wir damit ordentlich übers Ziel hinaus.
Im Therapieraum werden Übertragungen sogar gezielt genutzt: Wenn du deine Therapeutin plötzlich wie eine fürsorgliche Mutter oder deinen Therapeuten wie einen verständnisvollen Vater wahrnimmst, könnt ihr gemeinsam verstehen, welche alten Muster dich im Alltag behindern. Nur denk daran: Auch wenn sich dein Therapeut so anfühlt – frag ihn besser nicht nach Taschengeld.
Typische Beispiele für Übertragungen im Alltag:
-
Chef/Chefin → Elternfigur: Respektvoller Umgang wird plötzlich zur Angst vor Strafe.
-
Partner/in → Mutter/Vater: Konflikte in der Beziehung drehen sich plötzlich um unausgetragene Kämpfe mit den Eltern.
-
Freunde → Geschwister: Rivalitäten und Vergleiche, die du eigentlich schon längst hinter dir lassen wolltest.
Noch ein Beispiel gefällig?
Eine junge Frau fühlt sich von einem älteren Kollegen nicht wertgeschätzt. Sie versucht, sich besonders wichtig zu machen, buhlt um seine Aufmerksamkeit und Anerkennung, möchte toll und einzigartig wirken. Gleichzeitig versucht sie ständig, sich gegen seine Meinungen durchzusetzen, um zu beweisen, dass sie kompetent und eigenständig ist. Der Kollege wiederum ist von diesem „Prinzessinnen-Gehabe“ und ihren ständigen Versuchen, seine Vorschläge infrage zu stellen, zunehmend genervt. Eigentlich möchte er nur gute Arbeitsergebnisse sehen, ihre Verhaltensweisen führen jedoch dazu, dass er ungeduldiger und gereizter wird. Die junge Frau fühlt sich dadurch noch stärker zurückgewiesen, reagiert beleidigt und trotzig, was die Situation weiter verschärft. Hier zeigen sich klassische Übertragungsmuster: Er übernimmt unbewusst die Rolle eines strengen Vaters, während sie in der Rolle der Tochter landet, die verzweifelt um Anerkennung kämpft.
Was tun, wenn’s passiert?
Der erste Schritt: Erkenne, dass du gerade in der Vergangenheit lebst – emotional gesehen natürlich. Der zweite Schritt: Tief durchatmen, lächeln und sich bewusst machen, dass dein Chef nicht deine Mutter ist und dein Therapeut nicht dein Vater. Der dritte Schritt: Nutze das neu gewonnene Bewusstsein, um anders zu reagieren. Und dann? Genieße das Leben mit weniger Drama und mehr Realität!
Eine wirklich gute Hilfe - Aufstellungsarbeit!
Mithilfe der Aufstellungsarbeit lassen sich Übertragungen und sonstige Verwechslungen (man sagt dazu auch "Verstrickungen") nicht nur rasch erkennen, sondern auch sehr wirkungsvoll auflösen. Dadurch kann man sich oftmals sehr viele Konflikte und unnötige Probleme ersparen. In unserem Projekt "Seelensysteme" beschäftigen wir uns sehr intensiv mit diesen Themen. Wenn du mehr dazu wissen willst, schau dir doch mal an, wie so eine Aufstellung funktioniert. Die Termine findest du hier>>>
Fazit: Netflix kann einpacken – das wahre Drama liefern Übertragungen!
Übertragungen zeigen uns, wie vergangene Beziehungsmuster unser aktuelles Leben beeinflussen. Sie machen unseren Alltag zwar etwas komplizierter, aber auch spannender. Und wer weiß – vielleicht schafft es ja bald auch eine Serie über Übertragungen auf Netflix. Bis dahin wünschen wir viel Spaß bei der eigenen psychologischen Detektivarbeit!
Literaturverzeichnis
Freud, S. (1912). Die Dynamik der Übertragung. In: S. Freud, Gesammelte Werke, Band 8. Fischer
Lemma, A. (2003). Introduction to the Practice of Psychoanalytic Psychotherapy. Wiley
Mertens, W. (2012). Psychoanalyse: Geschichte und Methode. C.H. Beck
Thomä, H., & Kächele, H. (2006). Psychoanalytische Therapie. Springer.
Der Autor Franz Sandmair hat Soziologie und Soziale Verhaltenswissenschaften / Arbeits- und Organisationspsychologie / Ökologische Psychologie / Psychologie sozialer Prozesse in Linz und Hagen studiert. Zur Zeit absolviert er ein Masterstudium (Green Care - Pädagogische, beraterische und therapeutische Interventionen mit Tieren und Pflanzen) an der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik (HAUP) in Wien. Beruflich ist er als Unternehmensberater und Psychologischer Berater tätig.